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Die Individualitätsuniform

Von allen Seiten schallt uns das Dogma der Individualität entgegen, doch scheinen wir nur bedingt darauf zu hören. Selbst die durch das Internet erhoffte Vielfalt scheint nicht viel daran zu ändern. Wieso nur?

Im Jahre 1984 verzückte Apple am Superbowl die Welt mit einem Werbe-Clip, der, in Anlehnung an George Orwells Roman 1984, ein Zeichen setzte gegen die graue, eintönige Welt des Konkurrenten IBM. Gut zehn Jahre später warb die Marke unter dem Claim «Think different» für ihre Produkte. Die Nachricht war klar: statt mit der Masse mitzugehen, sollen wir anders und individuell sein. Der Besitz von Apple-Produkten ist schon lange kein Statement mehr für Individualität – zumindest, wenn man die Nutzerzahlen ansieht: Im Jahre 2013 nutzte 20% der Schweizerinnen und Schweizer einen Mac. Die Botschaft der Individualität ist aber noch nicht von der Werbebildfläche verschwunden. Das Blog The Window On The Street  weist darauf hin, dass Marken wie Coca Cola, Toyota oder Seat in ihren Werbungen die Menschen auffordern, einzigartig und sich selbst zu sein. Auch H&M promotet in einem eineinhalbminütigen Werbe-Clip Individualität und zeigt alle möglichen Ausprägungen davon. Seien es in die Tage gekommene Rockstars wie Iggy Pop, Oversize Models oder Exponenten der Transgenderbewegung. Auch Esprit mischt mit einer ähnlichen Kampagne mit und in Fashion-Blogs liest man Sätze wie etwa:

«Individuality is very important because it makes people who they are. Fashion can sometimes help to express people’s true personality and character».

Werber sind Zeitgeistspürer und vom Anderssein als Lifestyle immer noch schwer angetan. Doch werfen die Individualismus-Apologeten einen Blick auf die Schweizer Strassen und Cafés, so trifft sie der Schlag: Kids mit schwarzen skinny-Hosen, weissen Nikes, Männer mit Bärten, Frauen mit Rucksäcken, vertieft in ihre Smartphones, hängen auf Facebook oder Instagram rum (ja, ich zähle mich auch dazu). Von Individualität ist da wenig zu sehen. Mag sein, dass Kennern die feinen modischen Unterschiede ins Auge fallen, aber trotz dieses Umstands wird man das Gefühl nicht los, dass hier eine gewisse Uniformität herrscht, ja sogar gewollt ist. Ist das nicht merkwürdig? Schliesslich geniessen wir hier im Westen mehr Freiheiten als je zuvor, sei dies hinsichtlich der politischen Gesinnung, sexuellen Orientierungen oder religiösen Haltung. Doch nicht nur das: Dank Internet können wir uns von Lifestyles und Trends aus allen Ecken dieser Welt inspirieren lassen – theoretisch. Per Mausklick sind die entsprechenden Gadgets, Accessoires, Schuhe oder Jeans innerhalb weniger Tage im Briefkasten – Amazon, Zalando und Co. sei Dank. Der Nischenmarkt war noch nie so gross wie heute, doch wir scheinen nur bedingt von diesem Angebot Gebrauch zu machen. Aus dem gigantischen Fundus an Auswahl und Optionen, den wir heutzutage haben, scheinen wir das zu wählen, was unsere Peers tragen, hören oder nutzen. Und das, obwohl uns Marketingkampagnen nahelegen, um jeden Preis uns selbst zu sein und den anderen grauen, herdengetriebenen Lemmingen und ihrem orwellschen Dahinwegetieren unseren einzigartigen Stinkefinger zu zeigen. Das Be-Yourself-Dogma dröhnt von Plakaten über den Starbucks-Cafés, den Samsung-Bildschirmen und aus den weissen iPhone-Kopfhörern. Ein Graben tut sich hier auf zwischen den Werten, die propagiert werden und denjenigen, die wirklich gelebt werden. Der Individualitätsbegriff verkommt zur Phrase. Wieso ist das so?

Die beiden Ökonomen George Akerlof und Robert Shiller (Phishing For Fools) konnten nachweisen, dass ein Unterschied zwischen dem besteht, was die Menschen angeben zu wünschen und dem, was sie wirklich konsumieren. Dabei führen sie als Beispiel das Verhältnis zwischen den Kardashians und den Medien auf. Viele Leute belächeln die Medien, weil diese konstant über die Kardashians berichten und schimpfen, dass sie zu wenig über Politik schreiben. Nur: Die Medien berichten über die Kardashians, weil sie wissen, dass die Leute über die Kardashians lesen wollen. Sie wissen, dass sie damit ein Bedürfnis der Leser stillen. Wirklich zur Kardashiansfaszination zu stehen scheinen allerdings die wenigsten. Wünschen wir uns also Individualität, leben sie aber nicht aus? Und wenn dem so ist, wieso konsumieren wir alle das gleiche und laufen in den ähnlichen Kleidern rum? Der Wire-Autor Chris Andersen hat im Jahre 2004 ein Buch mit dem Namen The Long Tail veröffentlicht. Anderson erklärt darin, dass das Internet den Nischenmarkt fördere. In einem New-Scientist-Artikel namens «Online shopping and the Harry Potter Effect» erklärt Richard Webb, dass das Internet entgegen aller Erwartungen nicht zu einer Nivellierung von Nachfragen führte. Anstatt dass sich mehr Menschen für verschiedene Waren und Kulturerzeugnisse zu interessieren beginnen, begeistern sie sich noch stärker für die gleichen Filme, die gleiche Musik und die gleiche Mode. Laut Webb liegt diese Entwicklung an den digitalen Reproduzierbarkeits- und Kommunikationsmöglichkeiten, welche schnelle und kurzlebige Trends setzen. Daraus resultiert eine «Homogenisierung des Geschmacks»:

«Easy digital replication and efficient communication through cellphones, email and social networking sites encourage fast-moving, fast-changing fads. The result is a homogenisation of tastes that boosts the chances of popular things becoming blockbusters, making the already successful even more successful».

Zudem seien wir überfordert mit der Auswahl an Produkten, deswegen schielen wir lieber mal rüber zum Kollegen oder der Freundin und schauen, was die tragen und nutzen. Dies ist eine Beobachtung, die sich auch Verkäufer zunutze machen: Der Marketingstrategie Social Norms liegt zum Beispiel die Annahme zugrunde, dass Menschen sich allelomimetisch verhalten, also ihr Verhalten beeinflusst wird von den Menschen, die sie umgeben.

Wieso finden wir also Individualität toll, leben sie aber nicht? Liegt es daran, dass unsere Geschichte geprägt ist von Unterdrückung anderer und der anschliessenden Emanzipation der selbigen, angefangen bei der französischen Revolution über die Bürgerrechtsbewegung bis hin zu der Legalisierung der Homoehe? Die Marketingabteilungen dieser Welt haben verstanden, dass Individualismus wohl immer noch einen wichtigen Wert für uns darstellt. Sie propagieren diesen – nicht, weil sie wollen, dass wir anders sind, sondern weil wir als Konsumenten darauf anspringen.

 

Gastblogger Lorenz König arbeitet als Social-Media-Berater und schreibt gelegentlich für die Neue Zürcher Zeitung. Unter dem Namen Larry King ist er in Basel als Dj unterwegs. Mehr dazu gibt’s hier.

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