Der Spiessbürger war für mich lange Zeit das Schreckensgespenst schlechthin: Konservativ, engstirnig und konformistisch. Mittlerweile bin ich selbst Bünzli. Der Grund liegt beim Älterwerden aber auch daran, dass sich das Spiessbürgertum verändert hat.
Die Nachbarn von meinem Elternhaus am Giebenacherweg 1 hiessen – ohne Witz – Biedermann. Zwischen den Hausnummern 1 und 2 waren die Rollen klar verteilt: Wir waren die Anarchisten (Gebrüll, Musik mit 90 Dezibel und ein Garten, der aussah wie ein zerbombter Spielplatz) und sie die Angepassten (Kirche am Sonntag, gemähter Rasen und Nachtruhe um 22:00) – die Bünzlis.
Ich platzierte diese Form des Lebens irgendwo zwischen Fegefeuer und Hölle: zu konform und engstirnig, um Spass zu haben, zu weit unter dem Tellerrand, um drüber zu schauen und die Wunder des chaotischen Lebens zu erblicken.
Leben bedeutete für mich, Grenzen auszuloten und Regeln zu brechen. Entsetzte Lehrer, Bussen und ein malträtierter Körper waren für mich schlimmstenfalls Kollateralschäden, die ich gerne in Kauf nahm. Diese Haltung trug ich bis lange in die Adoleszenz hinein mit mir rum, zusammen mit meinem Gras, meinen Spraydosen und meinen Baggy-Pants.
Der Bünzligeist geht um
Fünfzehn Jahre später haben sich die Dinge geändert. Mit bald vierzig nerve mich ab den Besoffenen und den Teenies, die um 22:40 draussen rumschreien, und den Velofahrern, die das Trottoir als Rennstrecke benutzen.
Ich putze die Wohnung jede Woche, denn Unordnung und Staub kann ich genauso wenig ausstehen, wie unbeglichene Rechnungen. Montags kaufe ich jeweils für die ganze Woche ein und der Mittwoch ist für alle administrative Aufgaben reserviert, die in einem geordneten Leben so anfallen.
Wäre Papier-Bündeln eine Olympiadisziplin hätte ich mir schon lange ein Goldmedaille erknotet.
Würde es die Schweiz China gleichtun und ein Sozialkredit-System einführen, mit dem sie das wünschenswerte Verhalten der Bürger beziffert, bekäme ich die Höchstnote. Und ich bin nicht alleine, Freunde, die einst voller Tatendrang in die grosse Welt aufgebrochen sind, ziehen mit Kind und Kegel nach Riehen oder Bettingen. Das Spiessbürgertum hat uns eingeholt.
Rock’n’roll non-stop ist anstrengend
Ich sehe drei Gründe für diese Entwicklung, die nicht direkt zusammenhängen.
Älterwerden: Wenn die antiautoritären Energien abgewetzt sind und die Arbeitswochen strenger werden, sehnen wir uns nach Sicherheit und Erholung. Rock’n’Roll non-stop ist nun mal anstrengend und lässt sich schwer mit einer 42-Stundenwoche, Grossraumbüro und anspruchsvollen Chefs vereinbaren.
Multioptionsgesellschaft: Je vielfältiger die biografischen Optionen sind und je weniger Grenzen die Gestaltung unseres Werdegangs limitieren, desto stärker wird das Verlangen nach Ordnung in Heim und Alltag. Es geht ja auch darum, dass wir uns in der Welt aufgehoben und nicht in die Welt geworfen fühlen, wie Soziologe Hartmut Rosa mal meinte. Und das Bünzlitum bietet genau das.
Der Neo-Bünzli ist da
Der dritte Grund hat mit der sich verändernden gesellschaftlichen Rolle von Antiautoritären Kräften und Spiessbürgertum.
Viele Denken beim Spiesser an einen Typen mit Eigenheim, Doppelgarage und Schrebergarten. Aber in unserer postmodernen Spassgesellschaft ist dieser Füdlibürgerschlag ein Auslaufmodell.
Den Spiesser findest du auch in den linksprogressiven Ballungszentren, wie Zürich oder Basel.
Wieso? Der Kapitalismus hat mittlerweile jene Kräfte nivelliert, die sich in der Kulturgeschichte unversöhnlich gegenüberstanden: Das Spiessbürgertum und die aufbegehrende Jugendkultur.
In Zeiten in denen Skater zu Louis Vuitton Design Chefs werden und Rapper Haute Couture bewerben, in einer Welt, wo Clubkultur und ihr vermeintlicher Eskapismus zu einer Milliardenindustrie mutieren, wird Distinktion zur Phrase – und die Grenzmauer zwischen Gegenkultur und Bourgeoisie zu einem Zäunchen.
Selbstverwirklichung ist Mainstream und hat nur noch wenig mit Aus-Der-Reihe-Tanzen zu tun. Als Teil der akzeptierten Gesellschaftssphäre verwebt sich der Individualisierungsdrang mit dem Spiessbürger-Haltung und, tadaa, schon haben wir den Urbanen Spiesser.
Der Urbanen Spiesser hat keinen Schrebergarten, vielleicht nicht mal ein Auto. Auch schlägt er ab und zu über die Stränge. Aber seine Wohnung ist aufgeräumt, seine Rechnungen bezahlt, sein Abfall getrennt und am Wochenende trifft man ihn mit der NZZ am Sonntag an der Buvette am Rhein.
Ich würde gerne mit meinen ehemaligen Nachbarn einen Kaffee trinken gehen. Womöglich sind wir uns mittlerweile ähnlicher als ich mir je hätte träumen lassen.
Gastblogger Lorenz König macht Marketing bei wemakeit und Musik in Bars. Seine Gedanken zum Gang der Welten veröffentlicht er hier auf eyeblogyou und auf seinem Blog Boom-Town, sag hallo auf Facebook oder Instagram.